Das Einschulungsfoto zeigt 43 Kinder und einen Lehrer. Ein halbes Jahrhundert hat sich der Autor Zeit gelassen, der Frage ernsthaft nachzugehen, warum sein erster Lehrer so plötzlich weg war – aus dem Unterricht abgeholt, offenbar von der Polizei, für ein Jahrzehnt verschwunden und vom ganzen Dorf verschwiegen.
Die Recherche nach Leben und Taten des Lehrers Walter Wilke, der in Wahrheit Artur hieß und ein studierter Theologe und Massenmörder war, sollte Jahre dauern und niemals zu einem abschließenden Ergebnis führen. Zutage gefördert wurde die verwirrende Familiengeschichte eines fanatischen Nationalsozialisten und SS-Führers, dessen erste Ehe von Heinrich Himmler persönlich genehmigt wurde, der binnen weniger Kriegsjahre vier Kinder zeugte, der 1945 in die Rolle seines gefallenen Bruders schlüpfte, zur Tarnung seiner wahren Identität erneut heiratete, schließlich als vermeintlicher Onkel Vormund seiner eigenen Kinder wurde und mit den Lehrerabschlüssen seines Bruders eine ganze Generation Schüler der Volksschule Stederdorf unterrichtete. Und das unter heimlicher Duldung durch die britischen Besatzungskräfte.
Wer der falsche Lehrer, Betrüger und Bigamist Artur Wilke in Wirklichkeit war, sollte erst einer der spektakulärsten NS-Prozesse 1962 in Koblenz zeigen: Als Hauptsturmführer und Mitglied der SS-Einsatzgruppen hat Artur Wilke im Tötungslager Malyj Trostenez bei Minsk mindestens 6600 Menschen eigenhändig ermordet beziehungsweise ihre Erschießung oder Tötung in einem Gaswagen angeordnet. Er hat Gettos geräumt und angezündet und wie beim Keilerschießen auf fliehende und in Flammen stehende Menschen gefeuert. Er war der berüchtigtste Partisanen-Jäger Weißrusslands, der viele Dutzend Dörfer räumen, zerstören, ihre Bewohner töten und ganze Landstriche entvölkern ließ. Er wurde beschuldigt, eine Kirche mit 257 Frauen, Männern und Kindern darin in Brand gesetzt zu haben, und er hat nach Aussagen von Zeugen als erster Offizier (Ic) für Erkundung und Abwehr unzählige Menschen gefoltert und töten lassen.
Die Recherche-Ergebnisse werfen ein Licht auf den scheinheiligen juristischen und politischen Umgang im Wirtschaftswunder-Deutschland mit den NS-Kriegsverbrechen und auf die Unzuverlässigkeit menschlicher Erinnerung: Sieben unterschiedliche Varianten der Verhaftung ihres Lehrers erinnern die Mitschüler, fast gar keine Erinnerung an konkrete Taten hatten die Verdächtigen im Prozess oder in diversen NS-Ermittlungsverfahren. Und nicht eine einzige Tatschilderung wird Artur Wilke selbst in den Jahren seiner Haft zu Papier bringen.
Zu zehn Jahren Zuchthaus ist der Massenmörder in Koblenz verurteilt worden. In seiner Zelle wurde er zu einem der wichtigsten Zeugen für das Wirken der evangelischen Gefängnisseelsorge an den NS-Tätern. War schon sein Strafprozess zu einem Lehrbeispiel für die kollektive Verdrängung deutscher Schuld am Grauen der Hitler-Zeit geworden, so entwickelte sich Artur Wilkes Schriftverkehr mit Seelsorgern wie Prof. Hermann Schlingensiepen und Kirchenpräsident Hans Stempel zu einem für die theologische Wissenschaft fruchtbaren Beispiel der christlichen Schuldvergebung ohne Anerkennung eigenen Versagens durch die Täter.
Denn dazu, eigene Schuld auf sich geladen zu haben, konnte sich der tausendfache Mörder nie durchringen. An keiner Stelle hat er je Mitleid geäußert mit den Kindern, Greisen, Frauen und Männern, die er tötete oder töten ließ. Er sah sich vielmehr bis zum Lebensende als verführtes, aber eidestreues Werkzeug jener NS-Ideologie, die ihn zu seinen Taten befohlen hatte. Er versuchte gar, sein Handeln und das Fehlen jeder Alternative aus der Bibel, speziell dem Matthäus-Evangelium, abzuleiten. In einer Bibel-Übersetzung und in Briefen aus dem Gefängnis an seinen jüngsten Sohn hat Arthur Wilke, der studierte Theologe und falsche Lehrer, sich gerechtfertigt, sich selbst als Verführten und Getäuschten bemitleidet und seinen Sohn vor falschen Lehrern gewarnt – mit fatalen Folgen.
Am Ende fühlte sich der, der als verurteilter Kriegsverbrecher in seinen Augen stellvertretend für die Schuld eines ganzen Volkes hatte im Gefängnis leiden müssen, als eine Art Märtyrer. Welche Ironie: Der Papst hat elf seiner Opfer als wahre Märtyrerinnen selig gesprochen.
Infos zum Buch:
Die dunklen Geheimnisse eines Dorfes: Volksschullehrer war Nazi-Massenmörder (Göttinger Tageblatt)
Der Lehrer, der ein Mörder war (Peiner Allgemeine)
Jürgen Gückel ist Journalist. Er war fast vier Jahrzehnte als Redakteur und Korrespondent für die Zeitungen der Madsack-Gruppe, darunter Peiner Allgemeine, Hannoversche Allgemeine Zeitung und Neue Presse, tätig und arbeitete zuletzt 23 Jahre lang als Polizei- und Gerichtsreporter des Göttinger Tageblattes.
Für seine Arbeiten ist er vielfach ausgezeichnet worden. Er erhielt den Konrad-Adenauer-Lokaljournalisten-Preis für seine Serie über das Wirken der Justiz, den Regino-Preis für eine Serie über die Grundrechte. Er deckte den Transplantations-Skandal am Universitäts-Klinikum Göttingen auf und wurde dafür zusammen mit Kolleginnen der Süddeutschen Zeitung und der Taz mit dem Wächterpreis des Verbandes der Deutschen Zeitungsverleger geehrt. Viermal wurde ihm der Alexander-Journalistenpreis zugesprochen, unter anderem für eine Serie und ein Buch über das Grenzdurchgangslager Friedland. Und den August-Madsack-Preis erhielt er für seine Berichte in einem spektakulären Mordfall.
Er lebt heute wieder in seiner alten Heimat am Rande jenes Dorfes, in dem ein NS-Massenmörder zum geachteten Dorfschullehrer werden konnte.