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Im November 2020 führten wir ein (schriftliches) Interview mit Jürgen Gückel, dem Autor des Buches "Klassenfoto mit Massen­mörder – Das Doppelleben des Artur Wilke".


Ausführliche Informationen über das Buchprojekt sind hier zu finden.

 

Jürgen, wie ist dein Buchprojekt entstanden?


Jürgen Gückel: Natürlich war persönliche Betroffenheit der auslösende Faktor. Artur Wilke war schließlich mein erster Lehrer. Und die Frage, warum wurde er verhaftet, hat mich ein Leben lang begleitet. Je tiefer ich vorgedrungen bin in das, was aktenkundig war, umso erschütternder war für mich das Nichtwissen und Nichtwissenwollen der Mitmenschen, die die Verbrechen dieses Massenmörders nicht zur Kenntnis nehmen oder gar verhindern wollten, dass sie öffentlich werden. Fiktive Nazis in Filmen und Literatur – das ist interessant und man kann sich gleich ein bisschen stolz fühlen auf deutsche Geschichtsaufarbeitung. Aber je näher die Täter einem kommen, etwa wenn man entdeckt, dass auch Großvater oder jemand aus dem eigenen Dorf beteiligt waren, umso weiter möchten viele diese Zeit wegdrängen.

 

Wie sind die Reaktionen auf dein Buch?


Jürgen Gückel: Die könnten unterschiedlicher nicht sein: das reicht von Nestbeschmutzer bis Literaturpreisträger. Es gibt alte Bekannte, die grüßen mich oder meine Frau nicht mehr. Andere klingeln an der Haustür, um sich für Erkenntnisse zu bedanken. Die Stadt Peine hat mir den Friedrich-von-Bodenstedt-Preis zuerkannt, während einzelne Politiker befanden, über Kriegsverbrecher dürfe man nicht schreiben, so lange noch Angehörige leben. Tatsächlich hat ein Teil der Wilke-Familie bis heute nicht die geringste Reaktion gezeigt. Ein anderer Teil – Bruder und Schwester aus erster Ehe – hat durch das Buch nach 60 Jahren ohne jeden Kontakt wieder zueinander gefunden. Zu meiner Freude aber reagieren viele junge Leute, die sich des Nachkriegsbeschweigens ihrer Eltern und Großeltern bewusst werden, mit dem Bekenntnis: Wir schweigen nicht gegen Hass und Rassismus! Ein israelischer Journalist schrieb, das Buch habe nicht nur das Schweigen gebrochen, sondern vor allem das Desinteresse erschüttert.

 

Was bedeutet Gedenkkultur für dich und warum findest du es wichtig, insbesondere vor Schulklassen zu lesen?

Jürgen Gückel: Es gibt kaum noch Zeitzeugen. Wir, die Nachkriegsgeneration, sind heute die Zeitzeugen des Beschweigens. Gerade hat der Jenaer Historiker Prof. Norbert Frei im Zusammenhang mit der Bundestagsdebatte um einen Erinnerungsort zur deutsch-polnischen Geschichte eine „Diskrepanz zwischen dem, was eine international vernetzte historische Forschung seit Jahrzehnten herausgearbeitet hat, und dem, was davon im öffentlichen Bewußtsein angekommen ist“ diagnostiziert. Es gehe heute „im besten Fall um die Vergegenwärtigung von historischem Wissen“. Genau das ist Hauptmotiv meines Buches: aktenkundige Fakten zu Wilkes Verbrechen, zum Horror in Lagern und Partisanengebieten, weder wie Fiktion noch wie wissenschaftlichen Lehrstoff zu transportieren. Deshalb habe ich das Buch so angelegt, dass sich die Lebenswelt junger Menschen – Schule, Lehrer, Dorfgemeinschaft, christliche Jugendarbeit, aber auch Jugenderinnerung – mit dem Horror deutscher Besatzungsgeschichte verknüpft. Das soll Schüler in ihrer Welt abholen und an deutsche Geschichte so heranführen, dass es sie berührt. Der auf Juden ballernde Amon Göth aus „Schindlers Liste“ etwa ist für junge Leute heute Fiktion; ein mordender SS-Mann wie Artur Wilke jedoch wird ganz real, wenn ihnen einer seiner Schüler gegenüber steht.

 

Vielen Dank für das Interview!