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„Kontinuitätslinien von Kolonialismus, Rassismus, Völkermord zum Nationalsozialismus“

Die ehemalige „Deutsche Kolonialschule“ im Nordhessischen Witzenhausen wurde im Jahr 1898 gegründet. Hier wurden – bis auf eine kurze Zwischenepisode – ausschließlich männliche zukünftige Farmer für die deutschen Kolonien ausgebildet. Hintergrund der expansiven deutschen Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs war eine imperialistische Konkurrenz zu anderen Kolonialmächten. Die deutschen Siedlungen gründeten auf einem völkischen Herrenmenschen-Rassismus, vorrangige Ziele waren die Ausbeutung von landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen. In der Konsequenz bedeutete die deutsche Siedlung Landraub und nahezu völlige Entrechtung der alteingesessenen Bevölkerung. Versuche in der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ sich dagegen zur Wehr zu setzen, wurden von Soldaten der „Deutschen Schutztruppen“ mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. In Berichten in der internen Zeitung der Kolonialschule „Der Deutsche Kulturpionier“ (Online-Archiv, PDF) legten Schüler der Kolonialschule Zeugnis ab von ihrer Beteiligung am Völkermord an Herero und Nama (Wikipedia).

In diesem Zusammenhang sehr empfehlenswert ist ein Video auf der Seite der „Vernetzung Göttingen Postkolonial“. Dr. Ngondi Kamaṱuka von der „Association of the Ovaherero Genocide in the United States of America“ und der in Berlin lebende Israel Kaunatjike erzählen darin eindrücklich die Nachwirkungen des Völkermords bis zum heutigen Tag.

Wegen des völkisch-nationalistischen Geistes, der an der Schule seit ihrer Gründung herrschte, zogen die Schüler mit Begeisterung in den Ersten Weltkrieg. Lange Listen von Todesanzeigen, begleitet von pathetisch-nationalistischen Traktaten sind die zeitdokumentarischen Überreste dieser Zeitepisode. Sie mündeten bereits sehr früh (1920) in revanchistische, stark antisemitisch aufgeladene hetzerische Texte im „Kulturpionier“ gegen „Jud-England“ und „Jud-Amerika“.

An der Schule herrschten ein völkisch-rassistisch begründeter Nationalismus, ein starker Antisemitismus und Militarismus. Folgerichtig entwickelte sie sich zur „Keimzelle des Nationalsozialismus“ [1] in der Region. Kolonialschüler gründeten 1928 die NSDAP-Ortsgruppe in Witzenhausen und auch die städtische SA; wegen großen Zulaufs entstand bald eine eigene SA-Gruppe an der Schule.

Bereits am 5.8.1931 kam es zu einem größeren antisemitischen Pogrom, als Kolonialschüler – organisiert in SA, Stahlhelm und in zivil – ein Lager des jüdischen Wanderbundes Brith Haolim angriffen. Im folgenden Strafprozess wurden sie vom damaligen Kasseler Rechtsanwalt Roland Freisler (Wikipedia) verteidigt, dem späteren berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofs.

Einen Tag vor den reichsweiten Pogromen, am 8.9.1938, wurde die der Kolonialschule direkt gegenüberliegende Witzenhäuser Synagoge zunächst geplündert, später niedergebrannt. Fotos dieses Tages dokumentieren die Anwesenheit vieler Ortsansässiger (alemannia-judaica.de zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Witzenhausens, Fotos im unteren Teil).

Student der Kolonialschule war ein führender Propagandist der „Blut- und Boden“-Ideologie (Wikipedia), Richard Walther Darré (Wikipedia). Von 1932 bis 1938 war er Leiter des SS-„Rasse- und Siedlungshauptamts“ (Wikipedia), zwischen 1933 und 1942 „Reichsbauernführer“ und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft.
Der Begriff „Blut- und Boden“ vereinigte den Gedanken einer Zucht einer „arischen“ Rasse mit der Neuerschaffung einer agrarischen Adelskaste, wie Darré 1930 in seinem Werk „Neuadel aus Blut und Boden“ skizzierte. Der fantasierten Vorstellung eines ackerbauenden und wehrhaften Volks von Germanen folgend, war die Gründung von völkischen Siedlungen das Ziel, zunächst als ein Bollwerk von „Wehrbauern“ in den östlichen Reichsgebieten. Nach der Eroberung weiter Landstriche im Osten, sollten diese ebenfalls nach dieser Vorstellung besiedelt werden (bekannt geworden unter der Bezeichnung „Generalplan Ost“, Wikipedia). Massenmord an vielen Millionen Menschen in den überfallenen Gebieten sollte den Platz für die Siedlungen schaffen.

Die Organisation zum Aufbau der völkischen Siedlungen hieß „Artamanen“ (Wikipedia). Der Aufruf zur Gründung der Artamanen kam 1923 von Willibald Hentschel (Wikipedia), der auch bereits ab 1901 den Rassezuchtgedanken in den rasseutopischen Romanen „Varuna“ und „Mittgart“ propagierte. Neben Darré waren weitere bekannte Mitglieder der Artamanen Heinrich Himmler (Wikipedia) und der spätere Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß (Wikipedia). Sie wurden zum Symbol der Vollstrecker von „Blut und Boden“: Rassezucht, Vernichtungskrieg („Volk ohne Raum“, Wikipedia) und millionenfacher Massenmord durch den „Generalplan Ost“.
Es überrascht nicht, dass sich in der Zeitung der Kolonialschule, dem „Kulturpionier“, Werbung für die Artamanen-Bewegung findet.

Seit einigen Jahren wurde wieder eine Reihe von völkischen Höfen und Siedlungen nach Vorbild der Artamanen gegründet, hauptsächlich in den östlichen Bundesländern. Einige von ihnen pflegten Kontakt zu den letzten lebenden nationalsozialistischen Siedlern. Sie betreiben „artgerechten“ Ökolandbau, verkaufen ihre Produkte in Hofläden und drängen in die ländlichen Sozialstrukturen, um diese sukzessive nach ihren völkischen Vorstellungen umzuformen. [2], [3]

 

[1] Herbert Reyer: „Vom Entscheidungsjahr 1932 bis zu den Anfängen der nationalsozialistischen Herrschaft in Witzenhausen 1933/34“, Studie in: Witzenhausen und Umgebung. Beiträge zur Geschichte und Naturkunde – Schriften des Werratalvereins Witzenhausen 7, Witzenhausen 1983, S.77-130. Herbert Reyer ist gebürtiger Witzenhäuser und Professor in Hildesheim  [zurück zum Text]
[2] Broschüre „Völkische Siedler/innen im ländlichen Raum - Basiswissen und Handlungsstrategien“ (PDF), Hrsg: Amadeu Antonio Stiftung
[3] Broschüre „Braune Ökologen - Hintergründe und Strukturen am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns“ (PDF), Hrsg: Heinrich Böll Stiftung, 2012